Vincent Barré

Ein Porträt der Künstlerin als Reisende

Wer nur daheim unter seinesgleichen bleibt, lebt im Bereich des Profanen. Doch sobald man sich auf Reisen begibt, lebt man im Bereich des Heiligen.1

Reisen: Ich finde, es gibt Menschen, die sesshaft sind, und es gibt Menschen, die reisen. Da auch ich aus Reisen Inspiration geschöpft habe und in der Einsamkeit, im Unbekannten und in der Intensi-tät des Reisens Lebensentscheidungen getroffen habe, verstehe ich, wieso ich mich den Fotos, die aus diesen unglaublichen Zyklen deiner Reisen entstanden sind, verbunden fühle; was mich mit deinen Texten verbindet, die bescheiden und geheimnisvoll sind, denn in deinen Geschichten weiß man selten, wo man ist. 

Aus ihnen spricht deine Offenheit für Orte und Kulturen, die Art, wie du unterschiedlichen Menschen begegnest und mit ihnen ihren Alltag miterlebst, der geprägt ist von den regionalen Strukturen, der Natur, der Politik, den unterschiedlichen religiösen oder ideologischen Konzepten. Du lädst uns ein, deinen Wagemut zu teilen, mit dir zu gehen und uns von dieser Form von Freude und Energie in die Welt deiner Schöpfung hineinziehen zu lassen und diese ernsten oder kleinen Momente zu leben.

Skulpturen: Deine ersten Skulpturen sind geboren aus einer Dringlichkeit und Maßlosigkeit, einer Lust am unkonventionellen Gebrauch von Materialien und in exzessiver körperlicher Verausgabung – eine Energie, die deine Weggefährt*innen mitzureißen vermochte im künstlerischen Schaffen. Dann aber, im Laufe deiner Reisen, entstanden deine Werke aus dem Austausch mit Mitmenschen, inspiriert von mehr oder minder zufälligen Begegnungen oder im Kontext von Projekten, unvorhersehbar, in tiefer Vertrautheit, oder auch – ganz im Gegenteil – mit großer Entschlossenheit, wenn du Widrigkeiten ausgesetzt warst. Ich denke dabei an deinen Workshop mit den Künstlerinnen aus Kabul, an eine Ausstellung in der Umtriebigkeit einer Vorstadt von Bamako, an dieses unfassbare Atelier in Xi’an mit all den französischen Machos, an die Fotos eines wunderschönen Liebespaares, und weitere Episoden, die ich in deinen Texten entdecke.

Architekturen: Sosehr deine Fotografien oft menschenleer sind – sie zeigen Orte der Verbannung, der Verwahrlosung, des Abstiegs, Transitzonen, lächerlich prächtige oder auch tragische Orte – so ist deine dir eigene künstlerische Sprache darin sehr lebendig. Wir spüren, dass jeder Ort eine Geschichte ist, in der Figu-ren oder Geister aus der Vergangenheit wohnen. Während für viele Künstler​*innen das Heilige ein schwer zu erreichender Ort der Sehnsucht ist, für dich, Dorothea, ist es untrennbar verbunden mit etwas Rebellischem, Frechem und Spielerischem. Das Heilige steckt in den praktischen Dingen: In der Geste, dem Material und der gege-be-nen Form deiner Skulpturen, in ihren urbanen Aspekten, in den Farben deiner Zeichnungen und Keramiken – doch vor allem ist es in den sehr menschlichen Dingen zu finden, die von persön-lichem Einsatz zeugen, von einer Seelenverbindung, die sich aus deinen Reisen und persönlichen Prüfungen nährt. Das Handwerk des Lebens.2

 

1 Vgl. Arnold van Gennep, Übergangsriten, 1909

2 Cesare Pavese, Das Handwerk
des Lebens, 1952