Dr. Katharina Koch

Irritation als poli­­ti­sches Moment.
Ein- und Ausblicke in den Werken von Dorothea Nold

Pferde, die sich zwischen organisch wirkenden vielfarbigen Architektur gebilden durch den Berliner Stadtraum bewegen, Orangenbäume und Palmen am Spreeufer, wilde Bepflanzungen auf Wohn-bergen, Betonflächen und -türmen. Das alles sind Bilder, die Irritationen hervorrufen und zum Innehalten auffordern, aber auch solche, die zum Träumen und Spekulieren über eine andere, zukünf-tige Gestaltung und Nutzung von urbanen Räumen einladen. In ihrer Serie mit großformatigen Bauschildern, die sie an verschiedenen Orten in Berlin (Princess Towers (2019), Treptown Visions (2019), Bethanien-Höfe (2019)) und Bingen (Welterbe-Parkhaus (2020)) im Außenraum aufgestellt bzw. im Galerieraum (Mont Femott (2020)) präsentiert hat, entwickelt Dorothea Nold Visionen für eine Architektur der Zukunft, zum Zusammenleben in der Stadt, zu ökologischen Herausforderungen und möglichen, symbiotischen Verbindungen von Mensch und Natur mit Gebautem. Die Grundlage der farbintensiven Collagen bilden Keramiken der Künstlerin, die sie als Architekturmodelle mit Skizzen und Fotoschnipseln verbindet. Letztere wiederum setzen Menschen, Tiere, Objekte und andere Kunstwerke Nolds miteinander in Beziehung, montiert mit fotografischem Material der jeweiligen städtischen Umgebung.

Beim Betrachten gilt es, die eigenen Begehrlichkeiten und die Konsequenzen daraus zu hinterfragen und ein gewisses Unwohlsein auszuhalten: Die dargestellten Szenarien und Architekturgebilde sind nicht nur funktional und modernistisch, sondern im Gegenteil erwecken oder bedienen sie Wünsche nach einer menschenfreundlichen und ökologischen Stadt. Zugleich stehen sie aber auch für luxu-riöse Neubebauung und das Verschwinden der letzten städtischen Brachen. Nicht zuletzt durch das Design und den Duktus der Schilder, die angelehnt sind an vielerorts vorzufindende Schilder für reale Bauvorhaben, verweisen sie auf die Bedrohung der fortschreitenden Gentrifizierung und den Ausverkauf städtischen Raums an große Immobilienfirmen: Die fiktive Firma ihrer Bauvorhaben be-titelt die Künstlerin mit „Schark Immo“ – eine eindeutige Anspielung auf das englische Wort Shark = Hai = Immobilien-hai.

Anders beim fiktiven Bauprojekt Mont Femott – Neubebauung ehemaliges Humboldtforum Berlin, finanziert von Common Funds: Der begrünte Wohnberg, der das derzeitige, politisch umstrittene Bauprojekt des Humboldtforums im Zentrum Berlins ab 2023 ersetzen soll, vereinigt alles, was das feministische Herz höherschlagen lässt: inklusive, gemeinschaftliche und bezahlbare Wohn- und Arbeitsmodelle, ausgerichtet an den verschiedenen, individuellen Bedürfnissen seiner Bewohner*innen, zentral gelegen und zugleich begrüntes Naherholungsgebiet, organisch gestaltet und ökologisch überzeugend.

Mit der Bauschilder-Serie interveniert die Künstlerin in aktu-ellen politischen Diskussionen um die zunehmende Kommerzialisierung und Gentrifizierung der Städte und Forderungen zur radikalen Umgestaltung städtischer Räume hin zu inklusiven, solidarischen, kollektiven und diskriminierungsfreien Praxen. Zugleich zeugt die Serie von den sehr sinnlichen Vorstellungen der Künst-lerin, die Architektur nicht als Fremdkörper, sondern vielmehr als Verlängerung des menschlichen Körpers verstanden wissen möchte, als ganzheitliche Erfahrung, die soziale und ökologische Fragen einbezieht sowie als Ort, der Beziehung und Begegnung ermöglicht und daraus erst seine Form und Struktur kreiert.

Dorothea Nold verliert sich in dieser Serie, wie auch in ihren anderen Arbeiten, nie in rein ästhetischen Überlegungen und Umsetzungen. Sie stellt stets den Bezug zu der sie umgebenden Umwelt und den jeweiligen soziopolitischen Kontexten her, die sie nicht nur an ihren verschiedenen temporären Wohn- und Lebensorten der letzten Jahre wie Paris, Xi’an, Kabul, Istanbul und Berlin beobachtet, erfahren und entsprechend reflektiert hat, sondern auch auf ihren Reisen und kurzfristigen Aufenthalten in Mali, Senegal, Iran, Mongolei, China und zahlreichen weiteren Orten.

Es sind in erster Linie die widersprüchlichen Erfahrungen und Beobachtungen, für deren Ambivalenzen die Künstlerin dann jeweils eine eigene materielle, inhaltliche und ästhetische Form und künstlerische Übersetzung findet.

Fragen nach den Zuschreibungen von außen und den eigenen Positionierungen darin sowie prinzipiell nach dem Funktionieren zwischenmenschlicher Beziehungen und Begegnungen in verschiedenen Räumen und Zusammenhängen leiten Dorothea Nold bei der Auswahl bestimmter Materialitäten und Formgebungen für ihre Werke. Andersherum führt das aufmerksame Sichbewegen und Beob-achten (in) der sie umgebenden Umwelt – den Materialitäten, den Architekturen, der Natur, den Mustern und Strukturen – dazu, sich diese vom Material her zu erschließen.

Oft sind es auf den ersten Blick raue, spröde Materialien, die sie für ihre skulpturalen Werke verwendet. Es sind solche, wie sie vor allem im städtischen Raum wiederzufinden sind: Beton, Metall und Holz(reste), aber auch auch kontrolliertes, menschen-geschaf-fe-nes Grün (wie in der Arbeit Grundkreisrund (2009)). Ihre Keramiken wirken in ihrer Ästhetik der Zerbrechlichkeit des Mate-rials entgegen: Auch sie stellen – wie auch die jüngsten Metall-skulpturen – den Bezug zum Urbanen her, erinnern an Gebautes, das sich mit Organischem verbindet, und eröffnen in ihrer Ästhetik eine Vision für das Städtische der Zukunft. Die vorgefundenen Architekturen, Strukturen und Muster werden bis ins Absurde weitergesponnen. Dennoch blitzen hier stets Momente realer Möglichkeiten des Wie und Wo des zukünftigen Wohnens und (gemein-schaftlichen) Zusammenlebens auf.

Aus dem Gefühl der Schwierigkeit heraus, sich in einer fremden Stadt, die zum Wohn- und Arbeitsort werden soll, zu integrieren, sich diese anzueignen und Teil von ihr zu werden, ist die Installa-tion entwoder (2013) entstanden. Im Artist Talk zur gleichnamigen Einzel-ausstellung in der alpha nova & galerie futura beschreibt Dorothea Nold ihre Erfahrung, immer eine klare Position im (Gesell-schafts-)Gefüge zugewiesen zu bekommen, die sie trotz Anstrengung kaum zu verändern vermag, und die wie eine unsichtbare Mauer wirkt, wie eine Grenze, an die sie immer wieder stößt. Das Gefühl der Machtlosigkeit, die eigenen und von außen gesetzten Grenzen zu überschreiten, kann Trauer, Verzweiflung und Wut hervorrufen. Grenzen sind jedoch nie stabil, sondern immer etwas Geschaffenes, etwas Imaginiertes, das sich durchaus verschieben oder gar auflösen lässt.

Die Installation entwoder besteht aus einer scheinbar stabilen Bretterwand, die den Galerieraum in zwei gleich große Hälften teilt. Ein Motor sorgt dafür, dass die Wand sich mal auf die rechte, mal auf die linke Seite neigt, also zwischen zwei Seiten in Bewegung ist. Die Vorstellung der Stabilität wird durch das Kippen der Wand irritiert und gestört, die Dichotomie von zwei gleichen Seiten in Frage gestellt und eine Unsicherheit evoziert, die die eigene Wahrnehmung und Haltung nicht mehr sicher erscheinen lässt. Auch die Beschaffenheit der Wand spricht für ihre eigentliche Fragilität: Sie ist zusammengeflickt, uneinheitlich – wie die Identität und Positionie-rung der Betrachtenden selbst. So wird entwoder, also weder ent noch oder, zum Spiel mit den Grenzen und Grenzverläufen in und zwischen unseren Gesellschaften und den Räumen, die durch diese Grenzziehungen installiert werden. Räume, die so häufig nur die Möglichkeiten des Entweder/Oder suggerieren. Oftmals unhinterfragt wird das jeweilige Umfeld nur in Gegensätzen, also dichotom gedacht, wahrgenommen und danach gehandelt: weiblich-​männlich, wir-die anderen, unser Raum-euer Raum. Was passiert, wenn diese Gegensätze irritiert und verschoben werden? Vertraute und vermeintlich natürliche bzw. festgeschriebene Rollen, Positionen und Abgrenzungen, die das vornehmliche Denken prägen, werden aufgegriffen durch die gezielt binäre Raum-teilung. In diesem Sinne verstärkt die Installation binäre Strukturen und macht zugleich damit das Denken in Gegensätzen zum Thema bzw. bringt diese im wahrsten Sinne des Wortes ins Wanken, in die Irritation. Wo bleiben die Zwischenräume, die Uneindeutigkeiten? Im besten Fall weckt die Bedrängnis durch die kippende Wand das Begehren nach einem selbstermächtigenden Perspektiv- und Positions-wechsel.

Irritation, Illusion und Täuschung stehen auch im Fokus der Arbeiten Birdcage (Installation, Collagen, 2010) sowie Hochzeitsnacht (Performance, Installation, 2010). Während ihres Aufent-haltes in China fielen der Künstlerin die vielen Hochzeitsfotograf*​innen auf, die überall ihre Dienste anbieten. Die Vermarktung der Ware Liebe in Form von reproduzierten Bildern, die genderkonforme, heterosexuelle Konstellationen und inszenierte Körper in vermeintlich romantischen Settings zeigen, ist eine durchweg kapitalistische wie hegemoniale Praxis. Durch den hohen Grad der Inszenierung der Bilder und des Events Hochzeit an sich werden Begehrlichkeiten geweckt und bedient sowie Geschlechter-​Stereotype und Klischees reproduziert: die Braut in Weiß, geschminkt, gestylt, „rein“ und gleichzeitig stark sexualisiert. Dorothea Nold widmet sich in beiden Arbeiten der öffentlichen Inszenierung zwischenmenschlicher Beziehung sowie den symbolisch aufgeladenen Imaginatio-nen, die sich mit dem Ritual Hochzeit verbinden – natür-lich nicht nur in China, sondern in Art und Ausformung zwar divers, zugleich jedoch global in seiner tief verwurzelten gesellschaftlichen Symbolik. In einer Serie mit Colla-gen, die aus verschiedenen Teilen zusammengesetzte Frauengesichter zeigen, bricht sie mit den hegemonialen weiblichen Schönheits-idealen – weiß, jung, unversehrt – setzt diesen nicht-weiße, nicht-junge und versehrte Körper entgegen, zerstört durch die Neuzusammensetzung herkömmliche Sicht-weisen und verleiht ihren Gesichtern dadurch eine teils verstörende Persönlich-keit. Der Titel Birdcage sowie die Installation an sich, bestehend aus netz-arti-gen Vorhängen, die einen rechteckigen Raum bilden, verweisen auf die alte Metapher des „goldenen Käfigs“, in dem (Ehe-)Frauen zwar materiell gut versorgt, aber gleichzeitig eingeschlossen sind in konventionelle gesellschaftliche Zwänge.

Die Hochzeit an sich folgt meist fest etablierten gesellschaft-lichen und kulturellen Codes. Sie ist Schein und Wirklichkeit zugleich und die vollendete Form der Inszenierung, die jedoch trotz des Bewusstseins dafür eine breite, sich durch alle Milieus und sozio-kulturellen und religiösen Kontexte ziehende Akzeptanz erfährt: Bestimmte Begehren, Illusionen und Vorstellungen von wahrer Liebe, Glück, materieller Sicherheit, einem Status und einer zugeschriebenen Rolle in der Gesellschaft etc. werden hervorgerufen. Fällt die Fassade oder wird sie gestört, sind verletzte Gefühle, tiefe Enttäuschung oder gar Wut die Folge.

Für die Performance Hochzeitsnacht (2010) ließ Dorothea Nold professionelle Hochzeitsbilder mit ihrem vermeintlichen chinesischen Ehemann anfertigen, schickte diese zusammen mit einer Einladung an Freund*innen und Familie und lud diese zu einer großen Hochzeitsparty in Basel ein, die sie nach ihrer Rückkehr aus China in einer Bar abhalten wollte. Daraufhin erhielt die Künstlerin unzäh-lige Beglückwünschungen, obwohl manche sich auch irritiert bzw. überrascht zeigten aufgrund des asiatischen Ehemanns und der damit assoziierten Konflikte, hervorgerufen durch vermeintlich zu große kulturelle Unterschiede. Erst auf der Party, die mit allen Requi-si-ten einer traditionellen Hochzeit ausstaffiert war, inklusive der sich als Braut inszenierenden Künstlerin, klärte diese die Gäste über die Performance auf.

Wie sehr das Ritual Hochzeit in den Köpfen verankert ist, als etwas Einmaliges im Leben und als der wichtigste Tag im Leben einer Frau, zeigte die Reaktion mancher Gäste, die sich durch die Täuschung wahrhaftig hintergangen fühlten. Die Performance hinter-fragt und entlarvt nicht nur hetero-normative Vorstellungen von Ehe und Beziehung sowie herkömmliche Geschlechter-konstruktionen, sondern auch solche, die Partner*​-innenschaften nur innerhalb bestimmter „eigener“ kultureller und religiöser Zugehörigkeiten imaginieren.

Immer wieder schafft Dorothea Nold in und durch ihre Werke Irritationen, die zu teils heftigen Gefühlsausbrüchen der „Irritierten“ führen: Seien es die getäuschten Gäste der Hochzeits-party-Performance, die Besucher*innen der Installation entwoder, denen die Wand zu Leibe rückt oder die wütenden Anwohner*innen auf der einen und die aufgeregt Kaufwilligen der fiktiven Bau-pro-jekte auf der anderen Seite, die die Bauschilder-Serie im öffent-lichen Raum hervorgerufen hat. Während Erstere über die sozialen Medien ihrem Ärger über die vermeintlichen Neubebau-ungen der Prinzessinnengärten und des Mariannenplatzes in Berlin-​Kreuzberg Luft machten sowie die Schilder mit politischen Graffiti versahen – Eat the Rich – stand bei Dorothea Nold zeitweise das Telefon nicht mehr still vor eifrigen Investor*innen und Kauf-interessierten.

Auf den Schildern war die Telefonnummer der fiktiven Firma Schark Immo angegeben, die per Rufumleitung direkt auf das Handy der Künstlerin führte. Sogar aus Hongkong wurde sie kontaktiert.

Die heftigen Reaktionen zeigen, wie brisant die Situation ist und wie umkämpft das wenige noch nicht bebaute städtische Areal. Die Irritation und Täuschung durch die künstlerische Aktion und Intervention wird zum politischen Moment. Sie birgt eine Form des Empowerments und das Potential für Veränderung. Irritation als politisches Moment zu verstehen bedeutet im viel weiteren Sinne, dass uns das Gesehene und Erlebte zum Nachdenken und Stolpern bringt, die Gedanken in Bewegung setzt, um das Gewöhnliche, die herkömmlichen Sichtweisen und auch unsere eigene Position darin zu hinterfragen: sei es bezogen auf die Stadt, das Zusammenleben, (Geschlechter-)Beziehungen, Identitäten, Räume, Grenzen oder scheinbare Dichotomien.

Die Irritation schreibt sich immer wieder in Dorothea Nolds Arbeiten ein, macht diese teils widersprüchlich und widerspenstig, aber in jedem Fall lebendig.