Sonja Baeger
Umarmung des Unvorhersehbaren
Dorothea Nold zeigt in ihrem Katalog zum ersten Mal in Kombina-tion mit dem bildnerischen Werk ihre Reisefotografien, welche größtenteils auf Diafilm aufgenommen wurden und in gewissem Sinn ursprüngliche Materialsammlung für ihre Arbeiten sind.
Zwischen den Fotografien, Reisegeschichten, Zeichnungen und Skulpturen ist eine Wesensverwandtschaft spürbar. Diese Verbindung ist allerdings nicht sofort greifbar, denn ein mimetisches Prinzip dringt erst langsam durch. Beim Durchblättern formt sich ein Bild in meinem Gedächtnis, von sich kreuzenden Linien, die Räume wie Fächer definieren; mal gefüllt mit Leere, mal gefüllt mit Leben. Auf allen Ebenen bleibt die Verankerung in der Zeit offen: Befindet sich ein Stahlbetonskelett im Aufbau oder im Verfall? Entsteht hier Lebensraum, oder handelt es sich bereits um eine Bauruine? Woher kommt das Interesse der Künstlerin für Statik und Gitterstrukturen und worauf weist die Fragilität ihrer Skulpturen hin?
2008 erlebte Dorothea Nold in China ein Erdbeben der Stärke 7,8. Die über Minuten anhaltende Bewegung des Park-bodens, auf dem sie stand, sowie der Häuser und Brücken im Blick-feld, bestätigte ihr durch Kindheitserfahrungen geprägtes Grund-gefühl, dass Stabilität und Sicherheit trügerisch sind und jederzeit sehr schnell kippen können.
Dieses sprichwörtliche „Den-Boden-unter-den-Füßen-Verlieren“ hat sich als Gewissheit tief in ihr Körpergedächtnis eingeschrieben. In ihrer künstlerischen Praxis arbeitet Dorothea Nold seither bewusst und gerne mit instabilen Komponenten wie etwa Materialien, deren Eigenschaften im Widerspruch zu ihrer Bestimmung stehen.
Die Skulpturen erinnern an architektonische Gerippe, welche in Schieflage erstarrt sind, und tragen Namen wie Gebäude II oder Yellow The Sun Sun Tower. Sie wurden in verschiedenen Materia-lien gebaut, die jeweils keine festen Konstruktionseigenschaften haben, also denkbar ungeeignet sind, um klare, repetitive Strukturen herzustellen.
Innerhalb dieser Gerüste definieren die Linien unregelmäßige Flächen und sobald der Betrachter sich bewegt, werden weitere, dahinterliegende Ebenen sichtbar. Blickachsen verschieben sich und die Zwischenräume scheinen ihre Beziehung zueinander zu verändern. Die ersten Arbeiten dieser Art hat sie aus Modellier-ton gebaut. Diese Herausforderung ist gewollt, um das Ergebnis erkämpfen zu müssen und die Schwerkraft am Prozess teilhaben zu lassen. Unvermeidlich schwingt auch die Möglichkeit des kompletten Scheiterns mit. So ist der Vorgang des Modellierens keine Routine, sondern ein Abenteuer.
Die Künstlerin schneidet relativ regelmäßige Streifen zu, verbindet vertikale und horizontale Streben an den Schnittstellen mit Schlicker, baut Reihe für Reihe übereinander, bis das Gebilde zu einem dreidimensio-nalen Gitterturm emporwächst. Aufgrund der schnellen Trocknung und damit aufkommenden Brüchigkeit des Tons muss die Skulptur zügig, d. h. in einem Durchgang und an einem Tag fertiggestellt werden. Es bleibt keine Zeit für verspielte Abweichungen vom ursprünglichen Gedanken. Das Gerüst muss hochgezogen und sogleich stabilisiert werden, um langsam und gleichmäßig trock-nen zu können. Im Trocknungsprozess wirkt sich die Schwerkraft dann noch stärker aus, als es beim Aufbau der Fall war. Solange noch Feuchtigkeit im Ton ist, dehnt er sich aus und tendiert den physikalischen Gesetzen zufolge, nach unten zu hängen. Die Schnittstellen sind doppelt so dick und lassen nicht so leicht nach. So ergeben sich von einem Fach zum nächsten unterschied-liche Verschiebungen, und der Turm als Ganzes wabert unweigerlich in die eine oder andere Richtung. Erstaunlich ist, dass er innerhalb dieser Balancesuche erstarrt und zu seiner eigenen Stabilität findet. Ähnlich wie das Prinzip des rechten Winkels in der Natur sehr selten auftritt, erinnert die sich letztendlich selbst findende, amorphe Form an erdbebensicheres Bauen.
2020 übertrug Dorothea Nold das gleiche Konstruktionsprinzip auf ein für sie neues Produktionsverfahren, den Aluminiumguss. Die Skulptur wird dabei aus Wachs modelliert; die Streifen aus Wachs-platten zugeschnitten und an den Schnittstellen verschmolzen. Dann wurde im sogenannten Lost-Wax-Verfahren (verlorene Form) gearbeitet. Das heißt, jedes Wachsmodell wird direkt in feuer-feste Schamotte eingekittet, ausgeschmolzen und die so entstandene Hohlform mit flüssigem Aluminium aufgefüllt. Die Stücke sind nicht reproduzierbar. So entstanden mehrere Aluminium-türme ähnlicher Machart wie die Keramiken, jedoch viel höher und verspielter; mit Bögen, Erkern, unregelmäßigem Fachwerk und ornamenthaften Verdickungen an den senkrechten Stäben. Sie erinnern an sich selbst überlassene Stadtbebauung. In der Tat orientierte sich Dorothea Nold am Bilderkatalog ihrer Reise-dias.
Beim Entstehungsprozess war der Dialog zwischen Künstlerin und Werk ein ganz anderer als bei den Vorgängern aus Ton. Da das Wachs die gegebene Form behält, kann die Skulptur viel lang-samer entstehen und ihre Gestaltung über Tage fortgesetzt werden – solange es nicht bei sommerlichen Temperaturen zu schmelzen beginnt. Während des Aufbauens setzt die Bildhauerin bereits die wächsernen Gusskanäle mit ein, welche die Skulptur mit einem in der Mitte stehenden Stamm verbinden und später das Ein-fließen des Metalls ermöglichen. Praktischerweise sorgt das zusätzlich für Stabilität in diesem Stadium, denn es handelt sich wieder um eine schwindelerregend wackelige Konstruktion: Die Grundform ist entgegen statischer Logik unten schmal, während sie sich nach oben in alle möglichen Richtungen ausbreitet und beult. Im Fall dieser drei Aluminiumtürme war Dorothea Nold wichtig, dass die Arbeiten mit ihrer eigenen Körpergröße korrespondieren und sich somit auf Augen-höhe befinden. Damit entsteht für die Künstlerin ein Gefühl von Relevanz; einem Gegenüber, mit dem sie direkt etwas verhandelt. Der eigentlich architektonisch gedachte Turm bekommt etwas Wesenhaftes und Skelettähnliches.
Ein weiterer Aspekt bildet sich im Umgang mit dem neuen Material heraus, nämlich die Unterscheidung zwischen behandelter Oberfläche, wie eine Glasur auf Keramik, und der optischen Direktheit des formgebenden Stoffs. Während sie bei den Keramik-versionen noch ihre Vorliebe für knallig bunte Farben ausließ, wie sie bereits für die Wahl von Diafilm ausschlaggebend war, wollte sie beim Aluminium bewusst den Fokus auf die Struktur legen. Deshalb wurde die silbergraue Optik des Metalls nicht bearbeitet – im Gegenteil: Die matte Gusshaut ist größtenteils noch vorhanden. Fingerabdrücke und sonstige Arbeitsspuren wurden absichtlich nicht überarbeitet. Auch Grate, welche beim Metallguss oft stehen bleiben, sind willkommene Ausdehnungen der Form und überraschende Veränderungen des ursprünglich Intendierten. Das Material bringt seine eigene Farbigkeit mit und somit auch seine Fassade, ist gleichzeitig Ornament und Träger der Form. Die Materialität sichtbar zu machen anstatt die Oberfläche – in diese Richtung entwickelt sich das Skulpturverständnis von Dorothea Nold innerhalb der Werkphasen. Ihre grundsätzliche Einstellung zum Leben spiegelt sich in der Vorliebe zum Puristischen sowie der Umarmung des Unvorhersehbaren wider.
Wie die Unternehmung, im Backpacker-Stil oder mit dem alten Auto durch mehrere Länder zu reisen, den Zufall einlädt, die Räume zwischen Strecken und Orten zu füllen, sucht Dorothea Nold das Abenteuer auch im kreativen Prozess. Die Zuversicht, dass die Suche nach einem stimmigen Ergebnis auch ohne einen durchkonstruierten Plan gelingt, ebenso wie den Zufall willkommen zu heißen und ihm die Rolle des Geschichtenerzählers einzuräumen, entspricht dem aufregenden Gefühl eines Aufbruchs ins Unbekannte.
Im Gepäck hat sie den Glauben an die eigene Intuition als den zuverlässigsten Schutzfaktor und Wegweiser. Nicht in die gewohnte Umgebung eingebettet, sondern auf sich selbst zurückgeworfen zu sein, zeigt, welche Bestandteile der eigenen Kultur und Sozialisie-rung im neuen Kontext noch relevant sind. Dies zu spüren und die davon ausgelöste leichte Verunsicherung zu genießen – das ist die Auseinandersetzung mit sich und der Welt, welche Dorothea Nold immer wieder sucht. Im Bewusstsein, dass alles in Transformation und letzten Endes vergänglich ist, möchte sie die Potentialität des Machbaren ausschöpfen. Von vorneherein klein beizugeben, ist in ihrem Lebenskonzept nicht enthalten.